Es ist Mittwoch - von Wangen und von Brüttisellen her kommen die Kinder, überqueren die Strasse, gehen eine Einfahrt hinunter und verschwinden unter einem grossen Blätterdach von riesigen Haselsträuchern. Sie sind an ihrem heutigen Ziel angelangt - der «Freizyti». Sie warten ungeduldig bis es 14.00 Uhr ist und die Tore öffnen. Mit Handschlag und mit Namen werden sie von den Leitern begrüsst und versammeln sich zu den Eingangsworten. Danach ziehen die Kinder in verschiedene Richtungen davon, denn alle haben ihre eigenen Ideen und Pläne. Und diejenigen, die dies noch nicht so genau wissen, haben noch alle Zeit dies herauszufinden. Heute scheint dieses Ritual am Ort der Begegnungen so ganz selbstverständlich zu sein. Aber ist es dies? Wie entstand überhaupt die «Freizyti»? Und wie kam es dazu, dass die «Freizyti» auf dem idyllischen Landstück zwischen Wangen und Brüttisellen eine Bleibe fand?
Träume und Visionen
Träume und Visionen beginnen im Kopf - nicht anders war dies beim Verein «Freizyti» der Fall. Das Gelände der heutigen «Freizyti» lag viele, viele Jahre brach. Es ruhte still und geduldig vor sich hin – und wusste noch nichts von seinem zukünftigen Glück. Aber beginnen wir doch einfach ganz von vorne.
Entstehung
Im Jahre 1992 zogen wir als vierköpfige Familie von Zürich-Höngg nach Brüttisellen. Unsere Kinder wurden eingeschult und schon bald fühlten wir uns hier heimisch. Durch die aktive Teilnahme am Dorfgeschehen, lernten wir innert kurzer Zeit viele Leute aus beiden Dorfteilen kennen und bekamen einen Einblick ins Gemeinwesen. Als Eltern - als Kindergärtnerin und als Zimmermann, Fotograf und Fachlehrer an der Schule für Gestaltung in Zürich - von heranwachsenden Kindern interessierte uns auch das Freizeitangebot, das sich in unserer Gemeinde präsentierte. Die Sportvereine, die Pfadi, die Musikschule und das Jugi deckten schon damals einen Grossteil der Bedürfnisse ab. Hingegen fiel uns auf, dass in Wangen-Brüttisellen ein betreuter Spielraum fehlte. Ein Ort, an dem Kinder und Jugendliche sich wohlfühlen und in geschütztem Rahmen ihre Freizeit ungezwungen gestalten und verbringen können.
Spielräume
Der Bauboom ist auch in Wangen und Brüttisellen nicht aufzuhalten. Durch das verdichtete Bauen erhalten die Kinder eine zugewiesene Spielfläche, die mit Spielgeräten und Sandhaufen fertig eingerichtet wird. Es gibt immer weniger Möglichkeiten, ein Loch zu graben, ein Feuer zu entfachen, eine Hütte zu bauen oder auf einen Baum zu klettern. Die zunehmende Enge der Spiel- und Lebensräume grenzt die wichtige und natürliche Entwicklung der Kinder sehr stark ein. Heutige Studien beweisen, dass diese Einschränkungen zu Bewegungsarmut, Fettleibigkeit, Koordinationsproblemen und auch zu Lernschwierigkeiten führen können.
Erarbeitung eines Konzeptes
Im Februar 1997 erarbeitete ich ein Konzept mit dem Ziel, einen geschützten Spielraum für Kinder und Jugendliche in der Gemeinde aufzubauen. Dieses Modell liess ich dem Gemeinderat, sowie der kurz zuvor gegründeten Arbeitsgruppe «Zämeläbe» (Arbeitsgruppe mit präventiver Absicht), der Zivilgemeinde und den beiden Kirchgemeinden zukommen. Die Idee der «Freizyti» war geboren. Alle angeschriebenen Behörden und Kommissionen haben diese Idee für gut befunden, aber... es könnte ja jeder kommen...
Umsetzung eines ersten Projektes
Gibt es Zufälle - oder fällt einem eine Sache zu? So oder so. Ich wurde von der Arbeitsgruppe «Zämeläbe» eingeladen, das Projekt «Freizyti» anlässlich einer Sitzung vorzustellen. Das Gremium hörte sich meine Ausführungen aufmerksam an und erzählte anschliessend von ihrer eigenen Idee. Die Arbeitsgruppe plante zu dieser Zeit eine «Robinsonwoche» auf dem Freizeitareal «Büel» (Brüttisellen) der Zivilgemeinde und suchte dafür noch einen Leiter, den man mit der Planung, Gestaltung, Organisation und Leitung betrauen könnte. Sie haben mich aufgrund meiner vorgängigen Ausführungen angefragt, ob ich diese Leitung übernehmen möchte. Irgendwie passte alles zusammen! Diese Angelegenheit war Thema unserer Familiengespräche - und nicht nur wir, sondern auch unsere Söhne Lukas und Florian waren von dem Projekt begeistert. Wir sagten zu.
Folglich übernahmen meine Frau und ich die gesamte Organisation und Hauptleitung der «Robiwoche» und erlebten zusammen mit einem tollen Team und vielen, vielen Kindern eine intensive Ferienwoche. Im Voraus machten wir uns Gedanken darüber, was mit den Holzhütten im «Büel» geschehen sollte, wenn sie nach dieser Woche des Bauens fertig gestellt sind. Wir beschlossen, dass der noch zu gründende Verein «Freizyti Wangen-Brüttisellen» die Betreuung der Kinder übernehmen könnte, die nach den Sommerferien ihren Mittwochnachmittag beim Spielen und Weiterbauen im «Büel» verbringen möchten.
Wie gründe ich einen Verein?
Und was geschah mit der Vision «Freizyti»? Von den angeschriebenen Behörden war angesichts fehlender finanzieller Mittel keine Hilfe zu erwarten. Jedoch empfahlen sie mir einen Verein zu gründen. Nach dem Vertiefen in Fachliteratur machte ich mich daran, die Gründung des Vereins «Freizyti Wangen-Brüttisellen» in die Wege zu leiten. Mittels eines Inserates im Kurier lud ich zur Gründungsversammlung ins «Grillhüsli» des Gsellhofs ein. Es erschienen Presseleute und interessierte Eltern, die sich von der Idee begeistern liessen. Der Vorstand rekrutierte sich aus anwesenden Personen (Urs Bauer, Doris Betz-Moser, Ursula Flück, Heidy Lohrer, Christian M. Westermann), die ebenfalls davon überzeugt waren, mit der «Freizyti» ein ergänzendes Angebot in unserer Gemeinde zu schaffen. Am 2. Juli 1997 wurde der Verein «Freizyti Wangen-Brüttisellen» gegründet.
Land in Sicht
In der Zwischenzeit hatten Verhandlungen mit der Gemeinde stattgefunden, die bereit war, ein geeignetes Stück Land für die «Freizyti» zu suchen. Der damalige Gemeindepräsident Kurt Schmid, der mich bei meinem Projekt von Anfang an unterstützte, fand ein Stück Land zwischen Wangen und Brüttisellen und setzte sich mit dem privaten Grundeigentümer in Verbindung. Der Besitzer, Herr Hans-Peter Steiner aus Zürich war unserem Vorhaben sehr wohlgesinnt und verpachtet seither sein Land zu einem symbolischen Preis.
Der Aufbau
Voller Elan begannen wir im Frühjahr 1998 unsere Tätigkeit am Mittwochnachmittag auf dem Areal. Zusammen mit den Kindern wurde das dicht verwilderte Landstück gesäubert und von Müll, Scherben, Unrat, Stacheln und Dornen befreit. Die diversen Funde wie z.B. der eines chinesichen Ausweises liessen die Fantasien erblühen! Es war eine spannende Zeit.
Bis zu den Sommerferien musste gerodet, entrümpelt und das Land begehbar gemacht werden. Da wir zu diesem Zeitpunkt auf dem Areal weder Wasser noch einen abschliessbaren Raum besassen, war unser Auto ein unentbehrliches Transportmittel für Wasserkanister, Pfannen, Werkzeug und Vieles mehr. Der erste Grossanlass auf der «Freizyti» fand in den Sommerferien statt. Während der «Piratenwoche» fanden sich täglich etwa 150 Kinder ein und bauten ein Piratenschiff, einen Aussichtturm, eine Sitz-schlange, einen Sandhaufen und kochten für die ganze Mannschaft.
Die ersten Holzhütten
Nach den Sommerferien wurde der eigentliche «Freizyti»-Betrieb am Mittwochnachmittag aufgenommen. Die Kinder bauten eifrig ihre ersten Holzhütten, die zum Teil bis drei Stockwerke in die Höhe ragten. Das Werkzeug konnten wir mittlerweile in einem alten Bauwagen einschliessen und so mussten wir nur noch das Wasser von Zuhause mitbringen. Schon zu diesem Zeitpunkt kamen regelmässig zwischen 10 und 30 Kinder am Mittwochnachmittag auf die «Freizyti».
Eine Oase
«Wie in den Ferien», «eine Oase», «ein Kraftfeld», «es tut gut, hier zu sein», «es ist irgendwie anders da unten», «hier hört man die Vögel» - dies und viele ähnliche Aussagen hören wir noch heute immer wieder. Tatsächlich, beim Abbiegen von der Haldenstrasse und beim Eintauchen ins Gelände wähnt man sich in einer anderen Welt. Das «Freizyti»-Areal strahlt eine Ruhe und Geborgenheit aus, die nach Seinesgleichen sucht. Die Hektik ist vorbei, die Kinder können in aller Ruhe und nach Herzenslust ihre eigenen Ideen und Wünsche realisieren und den Raum einnehmen, den sie dazu brauchen.
Die Philosophie der «Freizyti»
Unsere Idee ist es, ein kreatives, handwerkliches, spielerisches Angebot für die Kinder und Jugendlichen in unserer Gemeinde anzubieten. Sie sollen möglichst aus eigener Initiative ihre Freizeit gestalten können. Wir stellen ihnen Platz, Raum, Material, Werkzeug und bei Bedarf unsere Unterstützung zur Verfügung. Dabei ist es uns wichtig, dass die Kinder und Jugendlichen ihre eigenen Vorstellungen verwirklichen können, ohne unseren «erwachsenen Ansprüchen» genügen zu müssen (z.B. bezüglich Qualität, Produktivität, Leistung). So entstehen einmalige Unikate, erschaffen von stolzen Kinderhänden «das han ich allei g’macht!“. Dadurch werden sie gestärkt und fühlen sich ernst genommen und akzeptiert. Wir Erwachsenen (damit sind nicht nur die Eltern gemeint, sondern auch die Behörden) müssen die Ideen, Anliegen und Ängste der Kinder und Jugendlichen ernst nehmen, denn sie sind die Zukunft unserer Gemeinde, die Zukunft unserer Welt.
Aufbau der Baracken
Der Vorstand machte sich Gedanken zum Bau von zwei Baracken. Die eine sollte als Werkstatt, die andere als Aufenthaltsraum mit Küche dienen. Wir hatten Glück, denn was wir gesucht haben, haben wir beim Bund - auf dem Waffenplatz Bremgarten - gefunden. Wir erhielten zwei Militärbaracken. Mit Asylanten (Afrikanern) fuhren wir nach Bremgarten und demontierten Stück für Stück die beiden Baracken.
Eine temporäre «Freizyti»-Baukommission - bestehend aus optimistischen, freiwilligen Leuten unser Gemeinde - nahm den Wiederaufbau der Baracken an die Hand. Das Baugesuch wurde auf fünf Jahre befristet und vom Kanton sowie der Gemeinde, mit einigen Auflagen, bewilligt. Innerhalb eines Jahres war der Aufbau abgeschlossen und die beiden Baracken waren bezugsbereit. Der Aufenthaltsraum und Küche werden für stille Arbeiten und das Zubereiten des Zvieris benutzt und die Werkstatt (ausgestattet mit diversen Holzbearbeitungsmaschinen) wird rege genutzt.
Ablauf eines Mittwochnachmittages
Die Kinder kommen nach und nach, parkieren ihre Velos und melden sich beim Leiterteam. Man kennt sich! Und wenn dies noch nicht der Fall ist, dann ist der Bann schnell gebrochen. Denn: Alle sind willkommen. Und alle nutzen und geniessen das vielseitige Angebot. Die einen holen ihren Werkzeugkübel um an ihren Hütten weiterzubauen, die anderen fragen nach der Hängematte um den Nachmittag beim Schaukeln zu geniessen, einige bearbeiten Speckstein und wieder andere spielen Pingpong. Es entstehen selber erfundene Rauchmaschinen, eigens kreierte Stühle und Tische, bunte Holzboxen in allen Grössen, Kunst-gegenstände aller Art und vieles mehr. Es wird gelacht, gespielt, geklettert, gehämmert...
Unterdessen wird der Zvieri vorbereitet, der während der Pause gemeinsam eingenommen wird. Auch Väter und Mütter, die mit ihren vorschulpflichtigen Kindern den Nachmittag auf der «Freizyti» ver-bringen, sind selbstverständlich unsere Gäste. Frisch gestärkt gehen die Kinder in die zweite Runde bis es um 16.45 Uhr heisst: Aufräumen. Die Werkzeugkübel werden zurückgebracht und auf ihren vollständigen Inhalt kontrolliert, denn alles Material, das hervorgeholt wurde, muss auch wieder verräumt werden.
SpielplatzleiterInnen und BetreuerInnen
Das Rückgrat bildet der Vorstand, der den Verein trägt und den Betrieb mit unermüdlichem und gewissenhaftem Einsatz aufrecht erhält. Ausserdem konnten wir in all den Jahren immer wieder auf die ideelle und finanzielle Unterstützung unzähliger Eltern und Einwohner zählen. Nicht alltäglich sind auch die Einsätze all der LeiterInnen und HelferInnen, die Mittwoch für Mittwoch die vielen Kinder betreuen, denn sie tun dies ehrenamtlich und aus Überzeugung. Dank all diesen Leuten lebt die «Freizyti». Dies ist einzigartig! Hinzu kommen alle zusätzlichen Anlässe wie z.B. die Schaffsamstage, das Chränzle für Kinder, das Guetzle usw. Selbstverständlich sind wir auch an verschiedenen Dorfanlässen anzutreffen, sei es am Dorffäscht, der Chilbi, am Neuzuzügeranlass, manchmal auch am Dorfmärt in Wangen, am Räbeliechtliumzug in Brüttisellen, am Abstimmungszmorge oder am Adventskalender Wangen. Es ist der «Freizyti» sehr wichtig, ihren Anteil zur Dorfgemeinschaft beizutragen.
Zukunft der «Freizyti»?
Die provisorisch erteilte Baubewilligung läuft Ende 2019 aus. Der Kanton sieht ohne Einzonung keine Möglichkeit, die Bauten und somit die «Freizyti» auf dem Areal länger zu akzeptieren. Unser grösstes Anliegen ist es, hier bleiben zu können, denn wir sind überzeugt, dass Kinder und Jugendliche ins Dorfzentrum gehören und nicht an den Rand der Gemeinde gestossen werden dürfen.
Träume und Visionen beginnen im Kopf - nicht anders war dies beim Verein «Freizyti» der Fall. Das Gelände der heutigen «Freizyti» lag viele, viele Jahre brach. Seit 20 Jahren wird es belebt von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen.
20 Jahre Freizyti
Aus einem Traum wurde Wirklichkeit. Wie schön, wenn dies so bleiben dürfte.
Christa und Christian M. Westermann